This China

11/29/2019 11:41:00 PM

Nach meinem vierwöchigen Arbeitsaufenthalt in Peking, und untypisch für diesen Blog, möchte ich ein paar Erkenntnisse zum aktuellen Status Chinas teilen, welche Herausforderungen man als Reisender erlebt, was die Kultur zu bieten hat und wohin dieses Land vermutlich steuern wird.


Die Chinesische Skala

Viele journalistischen Texte über China betonen seit Jahren den bemerkenswerten Aufbruch und die Geschwindigkeit, mit der sich der Staat seit 1978 entwickelt. Tatsächlich hatte ich eine vollkommen falsche Skala für die chinesischen Dimensionen angelegt. Eine Zugfahrt von Peking nach Shanghai hat mir das sehr eindrucksvoll verdeutlicht: Eins-Komma-Vier-Milliarden-Menschen. Das ist die 17-fache Bevölkerung Deutschlands. Die Bevölkerungsdichte Chinas beträgt 137 Personen pro km², aber nur, wenn man die großen, unbewohnten Bergregionen mitrechnet. 94% der chinesischen Bevölkerung wohnt tatsächlich unterhalb der Heihe-Tengchong Linie und dort liegt die Dichte bei 325/km², was eher der von Japan (348/km²) oder Baden-Württemberg (308/km²) entspricht. Peking allein zählt 23 Millionen Einwohner, mehr als ganz Niederlande. Der Schnellzug braucht von dort eine Stunde bis Tianjin (15mio Einwohner), eine weitere Stunde bis Jinan (8mio), wieder eine bis Nanjing (8mio) und nochmal eine bis Shanghai (25+mio). Mit diesen vier Stopps allein hat man mindestens 79mio Einwohner erreicht, nahezu die Gesamtbevölkerung Deutschlands. Man fliegt buchstäblich mit 350km/h im Highspeed-Zug unentwegt an Hochaussiedlungen, Mega-Cities, Kraftwerken und namenlosen „Kleinstädten“ (bis 1mio) vorbei. Überall drehen sich Kräne, es werden Wohnhochhäuser in Massen gebaut. Ich rede nicht nur von ein paar duzend, sondern von zehntausenden Hochhäusern. In Tianjin zum Beispiel passiert man den noch nicht ganz fertig gestellten Goldin Finance 117, ein „Super Tall“ Tower von 597m Höhe. Drumherum etliche andere Bürotürme. Ich frage mich, wer da ernsthaft einziehen oder arbeiten soll, und denke, dass das eine gewaltige Immobilienblase sein muss.
Jede dieser Mega-Cities - und die vielen unbekannten Städte dazwischen - haben unzählige, endlose Wohnsilo-Siedlungen. Es hat eine unvorstellbare Dimension angenommen. Klar, die 1,3 Milliarden Menschen, die östlich dieser Heihe-Tengchong-Linie leben, müssen schließlich irgendwo wohnen. Und sie wollen nicht mehr so hausen, wie es noch ihre Eltern vor 30 Jahren taten. Der durchschnittliche Shanghaier hatte in den 1990er gerade einmal 4,4m² Platz zur Verfügung. Heute sind es schon 16m²/Kopf. Zum Vergleich: der gewöhnliche Berliner hat über 38 m² Wohnfläche pro Nase. Wenn also der Durchschnittschinese auch über so viel Platz verfügen will, wird der Bauboom noch mindestens 40 Jahre andauern.
Die chinesische Mittelschicht beträgt schon heute mindestens 700mio Menschen, das ist mehr, als die EU Einwohner hat. Das BIP (PPP) Chinas hat im Jahre 2014 das der EU und in 2017 der USA überholt, und nominal gerechnet etwa in 5 Jahren. Weiterhin wächst das BIP dieses Jahr um schätzungsweise 6,5%, was der jährlichen Gesamtleistung der Niederlande entspricht, also allein in 2019 ist das absolute Wachstum höher, als 365 Tage Arbeit aller Holländer zusammen. 

Angesichts dieser Dimensionen und der Geschwindigkeit stehen wir außer Frage vor einem chinesischen Jahrhundert. Ob wir das gut finden oder nicht spielt dabei überhaupt keine Rolle.

Infrastruktur



Überhaupt habe ich während der Zugfahrt viel über Infrastruktur nachgedacht. Zum Beispiel, wie es möglich ist, dass China innerhalb von nicht einmal 20 Jahren, das größte und schnellste Hochgeschwindigkeitsnetz bauen konnte? Der Zug fährt die gesamte Strecke PEK<>SH auf einer Hochtrasse, 10m über dem Boden – 1.200km weit. Man hat zu jedem Zeitpunkt bei einer Geschwindigkeit von 350km/h tadelloses LTE Netz, in der ersten Klasse sogar 5G, denn alle 300m Meter stehen Funkmasten entlang der Trasse, ununterbrochen auf 1.200 km Länge.
  



Natürlich ist das alles nur möglich, wenn man „from the scratch“ alles neu errichten muss. China investiert hauptsächlich in Neubau von Infrastruktur, schlicht weil es noch nicht nötig ist, in die Instandhaltung zu investieren. Es gibt auch keinerlei Widerstand in der Bevölkerung, dass vor ihrer Haustür ein Schnellzug vorbeirauscht. Der Unterschied zu Deutschland ist: China hat kein Kontinuitätsproblem, wie es in allen westlichen Ländern der Fall ist. Der Grund und Boden in Europa oder den USA gehört halt schon irgendjemandem, und der hat verständlicherweise etwas gegen Neubauprojekte im eigenen Vorgarten. Auch das kann man gut finden oder auch nicht, fest steht, die Infrastruktur ist bemerkenswert gut, von Fuß-, Fahrrad- und Fernverkehrsstraßen über U-Bahnen, Hochgeschwindigkeitstrassen bis hin zur Netzabdeckung. Im Vergleich zu anderen asiatischen Megacities wie Jakarta, HCMC, Bangkok oder Kuala Lumpur ist die Infrastruktur in den großen Chinesischen Städten deutlich besser und moderner.

Ein Blick auf die Skyline von Shanghai verrät, wo die Reise hingeht. Auch wenn überall die Propaganda von den „super tall“ Hochhäusern blinkt, es ist ja nicht so, dass der Chinesische Staat all diese Türme selbst besitzen würde. Diese Skyscraper sind Eigentum von irgendwelchen Firmen oder Fonds. Fact ist: Nicht die chinesischen Staatskonzerne produzieren Superreiche und Wohlhabenden, sondern das ganz profane Immobiliengeschäft. Anders als in Russland, wo Fabriken und Kombinate wenige Menschen superreich gemacht haben, ist es in China das Grundstück, Haus oder die Eigentumswohnung. Jede Familie, die in Peking einen der noch nicht abgerissenen traditionellen Hutongs besitzt, ist zumindest auf dem Papier mehrfacher Euro-Millionär. Da aber auch jede neue Eigentumswohnung Millionen kostet, bleiben diese Familien in den unsanierten, alten Hütten wohnen. Es ist wieder dieser paradoxe Lock-in Effekt, nur eben „next level“. Im Grunde sind in China die gleichen Blüten des Turbokapitalismus zu begutachten.

Nur bleibt die Frage, wo all das Geld herkommt, das in die Infrastruktur fließt, wenn es nicht aus Immobiliengeschäften der Regierung stammt? Schließlich investiert China Jahr für Jahr mindestens 5,5% des BIP in die Infrastruktur. In Deutschland und den meisten europäischen Staaten sind es deutlich unter 1%. Der Grund: Wir sind alt. Im Bundeshaushalt Deutschlands werden Jahr für Jahr 43% aller Steuereinnahmen in Renten und Sozialversicherungen gesteckt, Tendenz steigend. 

Geld, welches für Infrastrukturmaßnahmen fehlt. China hat schlicht anteilsmäßig weniger Rentner und das Rentenniveau ist auch deutlich niedriger als das in der westlichen Welt, die Sozialsysteme sind rudimentär ausgeprägt.

Das Medianalter in Deutschland beträgt beispielsweise 47 Jahre, in China ist es 37 und in den USA 38. In anderen Worten: noch kann sich China dieses Investitionsniveau leisten und muss es sich auch leisten, wenn es zukünftig den stark anwachsenden Anteil von Rentnern in der Bevölkerung nicht verarmen lassen will. Deutschland hat all das in den 60er und 70er Jahren finanziert, erbaut und durchlebt und querfinanziert heute mit den Erträgen, die die Infrastruktur indirekt abwirft, die Renten der Alten und Einkünfte der Einkommensschwachen.
Um das klar und deutlich zu sagen: Jeder, der sehnsuchtsvoll auf Chinas moderne Infrastruktur blickt, sollte im Hinterkopf behalten, dass wir in Europa einen Generationenvertrag zu erfüllen haben, den die Chinesen (noch) nicht erfüllen können und müssen. Uns ist sozialer Frieden schlicht mehr wert, als die schnellste Bahnstrecke oder die modernste Internetverbindung. Und das ist angesichts unserer humanistischen, freiheitlichen und solidarischen Grundwerte in Europa auch absolut in Ordnung! 

Verkehrsmittel

Über die Züge habe ich oben schon geschrieben, daher lasse ich hier nur Bilder sprechen:
Bike Sharing Wahn

Downsizing

Falsches Internet

Als digital native geht man davon aus, immer und überall die Annehmlichkeiten des (mobilen) Internets zu nutzen. Auf Reisen ist das Telefon das wichtigste Utensil, gleich nach frischer Unterwäsche. Die vielen Geschichten über den chinesischen Abhörstaat (erzählt aus der Perspektive des liberalen Europa) veranlassten mich, zwei Telefone auf meine Reise zu nehmen. Eines, dass ich „verseuchen“ kann, und eines das ständig offline bleibt. Doch gleich das ersten WiFi ließ meine Pläne grandios scheitern: Kein Internet für mein altes Pixel 1. Auf Nachfrage an der Hotelrezeption wurde mir bestätigt, dass bei einigen westlichen Telefonen keine Wifi Verbindungen aufgebaut werden könne. Das zweite, neuere Pixel 3 hat funktioniert. Erste Amtshandlung im Internet: Nach Essensmöglichkeiten in der Nähe recherchieren. Das Google nicht gehen würde, war mir bewusst, auch das Google Maps nicht vollständig funktionieren würde. Deshalb habe ich vorsorglich die Karten noch in Deutschland runtergeladen, sodass ich zumindest in den ersten Tagen eine Orientierung haben würde. Doch ich rechnete nicht mit den ausgeklügelten chinesischen Behörden. Google scheint in China das GPS Signal nicht richtig berechnen zu können, sodass meine aktuelle Position stets drei Blocks voraus und zwei Blocks zu weit links angezeigt wird – eine extrem verwirrende Angelegenheit. Fortan verließ ich mich, wie schon in der Pre-smartphone Ära, auf meinen Orientierungssinn, also Kreuzungen, Landmarks, Brücken und Gerüche. Bundeswehrerfahrung 4theWin.
Das viele westliche Apps und Websites geblockt werden, ist ja hinlänglich bekannt. Doch als jemand der sich nur sporadisch vorbereitet hat, war ich vom Umfang und der Tragweite dann doch überrascht. Beispiel: Ich wollte mir eine andere Maps und Search App runterladen. Gute Idee aber der Google Playstore ist ebenfalls geblockt! Keine geprüften Apps oder auch nur App-Aktualisierungen sind möglich! Um an entsprechende APKs zu kommen, müsste man sich auf dubiosen Seiten rumtreiben und auch nur dann, wenn diese nicht auch gesperrt waren. Ein Freund half mir, zumindest Open Street Maps zu bekommen, was viel besser funktionierte. Nicht nur neue Apps sind schwierig, auch App Aktualisierungen können zum Problem werden. Beispiel: Meine Banking App funktionierte nach 4 Tagen nicht mehr, da ein wichtiges Update durchgeführt werden musste, um sie weiter zu benutzen. Der App Store ist geblockt und damit auch alle Updates. Der geblockte Playstore kann sich also schnell zu einem gewaltigen Problem erwachsen.
Viele rieten mir, einen VPN Dienst zu nutzen. Abgesehen davon, dass die Nutzung in China unter Strafe steht (das Auswärtigen Amte erwähnt dies nicht umsonst mehrfach auf ihren Reiseinformationsseiten), ist selbst das kompliziert, denn auch diese App muss irgendwo heruntergeladen und auch online bezahlt werden. Meine Lösung war letztlich, in der Firma einen VPN für den Laptop einzurichten zu lassen, die entsprechende Apk aus dem Playstore zu laden, per Bluetooth ans Smartphone zu schicken und dann installieren und anmelden. Wirklich aufwendig! Das sollte man besser schon einmal in der Heimat geübt haben.

Was sonst alles nicht geht:
  • Nahezu alles von Google. (Gmail, Suche, Maps, Playstore, Fotos, YT, Google Analytics, Kalender, Notizen – einzige Ausnahmen: Hangouts ging einmal, aber nur Oneway/Eingänge und Google Übersetzer App! Sehr wichtig, vor allem die Bild- und Websiteübersetzung)
  • Wikipedia, Twitter & Netflix natürlich, aber auch alle deutschen Mediatheken wie ZDF, ARD…, Spiegel Online, The Guardian
  • Die allermeisten Podcasts
  • Interessanterweise bekommt man trotzdem Push Notifications vom Guardian, Google Fotos oder der Arte App, aber kann sie leider nicht öffnen.
Was funktioniert:
  • Alles von Microsoft! Nicht ohne Grund ist Microsoft das wertvollste Unternehmen aktuell, denn alle ihre Services funktionieren auch in China: Office Anwendungen, selbst über mobilen Browser, LinkedIn (nur unter Angabe einer Telefonnummer), Bing.com, Skype
  • Whatsapp, aber nur Text, keine Bilder oder Videos
  • Kleinere Messenger Dienste wie Signal oder Threema hingegen funktionieren tadellos
  • Zeit Online, Tagesspiegel, TAZ, kleine Blogs und so
  • Slack, aber der Rufaufbau dauern mitunter sehr lange (1-4min)
  • Spotify, aber sehr langsam. Streaming häufig mit Aussetzern.


Mit einem VPN kann man alle Apps, Websiten und Dienste auch in China nutzen. Ich hatte Express VPN, aber während und nach der Golden Week waren tatsächlich fast alle VPN Dienste mehrere Tage geblockt. Auch über eine Woche nach den Feierlichkeiten des 70. Jahrestags der KP funktionierte Express VPN maximal 5 min am Tag, andere überhaupt nicht. Erst zwei Wochen nach der Golden Week wurde es erträglicher, aber immer noch nicht verlässlich (weniger als 4h Verfügbarkeit pro Tag
Tatsächlich fühlte ich mich an den ersten Tagen in die digitale Steinzeit zurückversetzt. Ich musste Bücher lesen, Leute nach Routen und Dingen fragen, mir aufmerksam Orte und Wege merken, Kopfrechnen und immer die gleiche Musik hören. Feels like the 90s.
Bald darauf habe ich einen Mobilfunkvertrag bei CN Unicom abgeschlossen: 20GB LTE Datenvolumen und noch irgendwelche Freiminuten für insgesamt 99 RMB/mtl. also etwa 12€, monatlich kündbar. (Stand: Okt 2019) Hat alles gut geklappt, abgesehen von einigen Werbeanrufen und vielen vielen Spam SMS.

Bezahlung

In ausnahmslos allen Geschäften kann mobil mit WeChat Pay oder Alipay bezahlt werden. Selbst Obdachlose und Straßenmusikanten nutzen keinen Becher oder Hütte für Almosen und Hartgeld der Passanten, sondern einen QR Code zu ihrem WeChat Pay Konto. Marktdurchdringung: 100%. Andersherum, Bargeld, ist nur in ca. 60% der Geschäfte möglich und wenn, dann nehmen sie es nur widerwillig, da sie selten ausreichend Wechselgeld haben. Kreditkarten? Es gleicht einem Lottospiel, ob es funktioniert oder nicht. Unter 20% Erfolgsaussicht.
Als Ausländer ist es eine wahre Qual, denn die Behörden lassen seit März 2019 nur noch chinesische Bankkonten zu, um mobile payment zu nutzen. Ein Bankkonto bekommt man aber nicht so leicht. Selbst das Übersenden von digitalem Geld von chinesischen Bekannten wurde abgeschafft, sodass nur noch Bargeld bleibt. Da das auch die Einheimischen wissen, findet man kein Taxi, bleibt man hungrig im food court zurück und zigarettenlos im Späti stehen. Wirklich blöd. 


Überwachung

Weiterhin ist der Chinesische Überwachungsstaat ziemlich ausgefuchst. Wo immer man etwas betreten will oder sich anmelden muss, ist die ID erforderlich. Das Fußballticket ist mit der Pass-Nummer versehen und am Stadion erfolgt wirklich eine Passkontrolle. Gleiches gilt für Zugfahrten. Beim Kauf einer SIM Card braucht man ebenfalls einen Pass und es wird sogar ein Passfoto gemacht. Bei Einchecken im Hotel auch, bei der Einreise sowieso.  Im Grunde kennt daher der Überwachungsapparat sehr genau, welche Person, mit welchem Visum, welche Telefonnummer nutzt, welche Internetseiten ansurft und wann und wohin man in den Zug gestiegen ist. Zusammen mit den sehr umfangreichen Informationen, die sie beim Visa Antrag abfragen, liegt ein erstaunliches aber auch beängstigende Datentiefe vor. Allein mit den Informationen des Visa-Antrags könnten die Chinesischen Behörden ein gewaltiges Organigramm der Welt anfertigen, Stammbäume, Einkünfte und Militärerfahrung inklusive. Das ist alles sehr befremdlich.

Beijing Underground

Man mag es kaum glauben, aber es gibt tatsächlich einige Live Music Venues mit einer Kapazität unter 100 Personen, was per se in einem Land mit 1.400.000.000 Einwohnern mutig klein erscheint. Ich selbst war auf drei Konzerten in Peking, in der Live School Bar (was eine wunderbare Ranzkneipe mit Bühne in mitten einer ganz-und-gar-durch-gehipsterten Hutong-Gegend liegt), das fRUITYSPACE (ein sehr kleiner Kellerraum, der tagsüber ein Buch- und CD Laden ist) und im DDC (was im Wesentlichen ein gut sortierter Jazz Club ist). Die Anwesenheit meines Kollegen, der selbst oft auf den Post-Rock Bühnen der Stadt auftritt, hat den ein oder anderen Abend zum Selbstläufer gemacht: Schnäpse aufs Haus, jede Menge Nerdtalk und überraschend offene Debatten über Chinas Musik- und Kulturszene - man kennt sich halt im Untergrund.
fRUITYSPACE BEIJING

DDC Beijing
Live School Bar

Allerdings: das mit der Euphorie im Zusammenhang mit Konzerten müssen wir den Chinesen insgesamt noch einmal richtig erklären. Nach einer grandiosen Post-Punk Show der Bands Backspace und Lonely Lorey verabschiedete die rammelvolle School Bar die Künstler mit einem einsamen, ja gottverlorenen „WHOOOhooo“, das noch nicht einmal ernsthaft zu Ende „geHOO’d“ wurde, und wenigen motiviertem Applaus. Das mit der Aufmerksamkeit bei Konzerten ist zugegebenermaßen schwierig, wenn man ständig Dinge auf dem Smartphone zu erledigen hat.
Das ist ja bekanntlich ein weltweites Phänomen, genau wie die Hipster-Bewegung zum Ende des letzten Jahrzehnts. Wie ich hier bereits hinreichend dargelegt habe, sehen in der chinesischen Megastadt die Cafés, Bars und Restaurants genauso aus wie in Berlin, Chicago oder Sydney. Der chinesische Hipster hat zwar einen noch stärkeren Drang nach Jogginghosen jeglicher Couleur, aber damit gleicht er sicher nur den fehlende mitteleuropäische Bartwuchs aus, den es für den Neuköllner Schnauzer gebraucht hätte, um ausreichend street credibility zu erlangen.
Jedenfalls bin ich positiv überrascht, dass es so etwas wie eine (Post)Punk(Indie)Rock Szene in China gibt. Nehmt ihr mir nicht ab? Gut, dann hört mal in meine hand-picked Playlist rein:
Sino Punk + Indie Music from behind the Great Wall

XTX wurde mir als chinesische Nirvana vorgestellt, und von Backspace bin ich mittlerweile Fan geworden.

Lost In Translation


Haarsträubende Übersetzungsfehler gehören ja offensichtlich zum guten Ton der Benutzerhandbuch-Lyrik, insbesondere von Chineischen Herstellern. Umso mehr hat es mich erfreut, dass diese kleinen Freuden des Alltags auch Realität im Straßenbild Chinas sind. Ein paar Beispiele besonders guter Übersetzungen:


ATM

Korrekt übersetzt, aber alles andere Macht halt kein Sinn

Chinesische Akte X 

Ein Satzzeichen hätte dem Schild ganz gut getan.

Wo fängt die Feuerverbotszone an, und wo hört sie auf? 
Fremde Wesen.

Chinas Zukunft?


SOHO Building Beijing
Möchte man wissen, wie sich China die Zukunft vorstellt, geht man einfach ins Stadtmuseum von Shanghai. Wenn man die Staatspropaganda ausblendet, steht da sehr transparent:
  • Vision 2020: establish fundamental framework of an innovation center of science and technology with global influence and become a modern socialist international metropolis.
  • Vision 2035: built itself into an excellent global city, an admirable city of innovation, humanity and sustainability as well as a modern socialist international metropolis with world influence.
  • Critical indicators are at world-leading level, the city will serve as a vanguard and pioneer in reform and opening-up and innovation throughout the process of basically building a modern socialist country
  • Vision 2050: the city will write a more brilliant chapter for building China into a great modern socialist country, that is prosperous, strong, democratic, culturally advanced, harmonious, and beautiful and realizing the Chinese Dream of national rejuvenation.

Der Chinesische Traum der Zukunft ist schlichtweg, weltweit und in allen Belangen führend zu sein. Und sie haben sogar harte KPIs dafür entwickelt, woran sie festmachen werden, ob sie ihre Ziele erreicht haben. Zum Beispiel kulturelle Ziele:
  • Mindestens 1,5 Museen pro 100.000 Einwohner, was umgerechnet 345 Museen in Shanghai bedeuten würde
  • 4 Bibliotheken, 2,5 Theater und 6 Galerien pro 100k Einwohner. Welche Megastadt, egal wo sie steht, braucht wohl 575 Theater bei 25 Mio Einwohnern?

Es scheint eher so, dass sie sich an einer kulturell wichtigen Stadt orientiert - sagen wir New York - und dann eben infrastrukturelle Faktoren abgeleitet haben. Dass New York den Broadway hat, eine internationale Musik- und Filmindustrie beheimatet und jährlich Abermillionen Touristen in die Theater strömen, scheint bei der Festlegung ihrer Kennzahlen egal gewesen zu sein. Ziel ist es, nicht nur in einer, sondern in jeder erdenklichen Sportart die Champions League. Ob die lokale Bevölkerung mit all den Theatern und Museen jedoch etwas anfangen kann, ist deshalb zweitrangig. 

Interessant an dieser Propaganda ist auch, dass sich China als Demokratie versteht. Es mag nicht das gleiche Demokratieverständnis wie im globalen Norden vorherrschen, und tatsächlich ist das politische System grundverschieden zum Europäischen, und dennoch behaupten sie, ein demokratischer Staat zu sein. Laut Demokratieindex landet China auf Platz 130, eingestuft als autoritäres Regime aber mit durchschnittlichen Noten bei Politischer Kultur. Und tatsächlich, im persönlichen Gespräch mit parteitreuen Chinesen kam immer wieder der Einwand, man könne sich jederzeit in der Partei engagieren, so wie es schon 87 Millionen KP-Mitglieder täten; das der Aufnahmeprozess aber nur für linientreue Vollblutchinesen offen steht, wird dabei gern verschwiegen.
Also, wohin entwickelt sich China? Unvorhersagbar!

Tief in der chinesischen Kultur verankert, ist der Wunsch nach Veränderung. Stillstand, erzählten mir die Einheimischen, sei schlecht, Veränderung sei gut. Verständlich, denn Menschen, die heute 40 Jahre alt sind, kennen nur den "großen Aufschwung", denn der hält seit 1980 an. Aber aktuell finden die rasanten Veränderungen in der Technologie, im Einkommen, im überbordene Konsum und in der brutalen Stadtentwicklung statt. Gesellschaftlich aber steht alles still. Das kann auf lange Sicht nicht gut gehen. 

Und tatsächlich soll die Chinesische Regierung diverse technologische Innovationen bereits bremsen oder gar verboten haben, insbesondere Anwendungen der künstlichen Intelligenz und  Automatisierung, da sie befürchtet, die breite Einführung dieser Technologien könne zu viele Jobs vernichten. Denn dann hätte der große Chinesische Aufstieg eine neue, bisher unbekannte Facette: Sozialen Unfrieden, aber das können sie sich noch nicht leisten.


再见

Dipl Imp

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