Visionen für Millionen: Kapitel 1

7/17/2019 05:50:00 PM

Visionen für Millionen: 
Ideen zur Überwindung der spätkapitalistischen Sinnkrise 




Inhalt:
  • Intro | Neue Visionen für ein neues Zeitalter
  • Vision Automonie: Freie Energie, freier Wille und freie Patente
  • Vision EU: Die Zukunft liegt in Afrika (coming soon)
  • Vision Postkapitalismus: Zeit ist das neue Kapital (coming soon)

INTRO


Es ist eigentlich paradox: Wir befinden uns in einem langen Aufschwung. Der Staat nimmt viel Geld ein, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Tiefstand, unsere Städte erleben einen Bauboom, wir haben seit über 75 Jahren Frieden. Und dennoch spüre ich eine wachsende Nachfrage nach alternativen Gesellschaftsmodellen. Das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Gestaltungskraft unserer demokratischen Institution schwindet, gleichzeitig wird mit Unbehagen das Erstarken nationalistischer, protektionistischer Gruppen bedauert und überhaupt mit Sorge und Ohnmacht das Ausufern und -wuchern digitaler Großkonzerne kommentiert. Deshalb hört man allerorts: „Ein weiterso kann es nicht geben“. Paradox, denn „Never change a running system“ wäre angesichts der Erfolgsgeschichte der letzten Dekade angebrachter. 

Durch die gewaltigen Wählerwanderungen der letzten Jahre und der Unzufriedenheit mit unserer Politik scheint mir, dass die Menschen ihren Kompass verloren haben, der ihnen Orientierung in den Alltagsentscheidungen gibt, der identitätsstiftend und gleichermaßen sinnstiftend ist. Und es stimmt: Wo sind die großen Ideen, die Visionen, die uns leiten? 

Ein ergebnisoffener, utopischer und vielleicht auch etwas naiver Debattenbeitrag:







Wenn wir eines aus 14 Jahren CDU geführter Regierung gelernt haben, dann dass sie nie ein großes politisches Projekt hatte. Adenauer hatte die Westannäherung und den NATO Beitritt, Brandt die Aussöhnung, Kohl die Einheit und den EURO, Schröder die Sozial- und Energiereformen. Und was hatte Merkel? Jede Menge zu retten: Rettung der Banken, Rettung des Euros, Rettung von Flüchtlingen. Gewissermaßen eine Systemzustandsbeschreibung, in der reaktives Krisenmanagement mehr gefragt war, als gestalterisch tätig zu werden. 14 Jahre lang! 


Wir leben in einer Zeit, in der die großen Ideologien ohnehin nicht mehr die Orientierungen geben, die sie dereinst boten. Die ideologische Krise des Sozialismus seit den 1980er hat bisher noch keine Leitlinie auf die internationalen Fragen des 21. Jahrhundert gefunden: Klimakrise, digitale Transformation, Globalisierung, die Zukunft der Arbeit. Die liberale Marktwirtschaft steckt seit der Finanzkrise in einer Sackgasse, produziert gewaltige Schuldenberge, führt zu irrwitzigen Vermögensanhäufungen einiger Weniger und wird gegenwärtig durch Notenbanken und fortschreitende Finanzialisierung am Leben gehalten. Ohnehin hat der Kapitalismus wenig Impulse für Visionen zu bieten. Wohin sollte er uns denn auch noch führen? Wir haben ihn bereits seit gut 300 Jahren. 
Und der Nationalismus liefert überhaupt keine Antworten auf die Fragen unserer Zeit, wenig verwunderlich stammt er doch aus dem präglobalisierten, Präinternetzeitalter. Nicht zuletzt ist die gesellschaftliche, technologische und private Beschleunigung unser Generation, der „rasende Stillstand“ wie ihn Hartmut Rosa bezeichnet, mitverantwortlich, dass wir eine Müdigkeit gegenüber des ewigen Wachstums empfinden. Neben der Wachstumskritik empfinden immer mehr Menschen eine Entfremdung „im großen System“, sind auf einer Sinnsuche und zweifeln zunehmend am Wohlstandsverteilungskonzept. Dies sind unbestritten Treiber einer Orientierungslosigkeit und daraus erwächst der Wunsch nach Veränderung. Nur wohin?

Es verwundert deshalb wenig, das Bewegungen wie Brexit, America First aber auch en Marche oder die Grünen schnell, sehr viel Zuspruch erhalten und innerhalb kürzester Zeit über tradierte Milieus, Ethnien und Klassen hinweg Wählerstimmen einsammeln. Es besteht in allen Gesellschaftsschichten das tiefe Bedürfnis nach einem Anker, einem Ziel, nach einer Vision, ja sogar Utopien, wie wir in Zukunft leben wollen. Wir brauchen eine moralische Legitimation für den aktuellen und anstehenden Verzicht, die täglich geleistete Mehrarbeit aber auch für den anstrengenden, demokratischen Willensbildungsprozess, damit wir sagen können: Ja, das bringt uns unserem Ziel ein Schritt näher, es zahlt auf unsere Vision ein. Denn eines ist klar: Wachstum, technischer Fortschritt und sozialer Aufstieg liefern uns nicht mehr uneingeschränkt diese Legitimation, wie sie es vielleicht noch in den 1990er und frühen 2000ern lieferte. 

Nun, was kann so eine Vision sein? Wofür lohnt es sich, „durch dick und dünn“ zu gehen? Oder um es in der Silicon Valley Sprache zu sagen: Whats our BHAG? Our Big Hairy Audacious Goal?


Das BHAG, oder die Vision muss groß sein. Sie muss utopisch sein. Denken wir an die genialste Utopie aller Zeiten: Das Paradies im Jenseits. Es gibt keinen naturwissenschaftlichen oder historischen Beweis für die Existenz des Paradieses im Jenseits. Und doch folgen ihr Milliarden Menschen auf dieser Erde, seit Jahrhunderten. Nun, eine Vision für Deutschland oder Europa muss nicht das Heilsversprechen sein, aber zumindest groß gedacht denn.

"People tend to overestimate what can be done in one year and to underestimate what can be done in five or ten years."  -  J. C. R. Licklider in „Libraries of the Future” 1966


In den nun folgenden Seiten versuche ich, eine Leitlinie zu entwerfen, die – aus meiner Sicht – in eine neue Gesellschaft des 21.Jahrhunderts führen kann. Es geht um existenzielle Fragen, aber auch um unsere Demokratie sowie die Logik, wie wir Entscheidungen treffen. Ich freue mich auf konstruktive Kritik!







VISION 1: AUTONOMIE


1.1 Freie Energie für alle 

Autonomie ist die Basis, frei von anderen Einflüssen und Abhängigkeiten Entscheidungen treffen zu können. Wenn wir, und damit meine ich die Europäische Union als Ganzes, unsere Zukunft nach unseren Vorstellungen gestalten wollen, müssen wir zu allererst existenzielle Abhängigkeiten gegenüber Drittstaaten verringern. Da Europa ausreichend Wasser, Luft und Land zur Verfügung steht um die Bevölkerung zu ernähren, ist die einzige existenzielle Abhängigkeit derzeit von Rohstoffen gegeben, die wir nicht in natürlicher Form und ausreichender Menge auffinden: Öl und Gas. Können wir unseren eigenen Verbrauch für das Heizen unserer Wohnungen und das Betanken unserer Autos soweit reduzieren, dass es nicht weiter von Gas und Öl (und deren Derivate) abhängt, sind wir nicht auch weiter gezwungen, in einer Abhängigkeit mit Staaten zu stehen, die nicht oder nur bedingt unsere europäischen Werte und Vorstellungen teilen. Russland (als Gasexporteur #1), arabische Öl-Staaten in Nahost und in Teilen auch die USA sind Partner, die unseren Ressourcenbedarf decken, allerdings zu hohen moralischen Kosten: Erdöl gegen Panzer (Saudi-Arabien), Nordstream 2 gegen Sanktionsreduzierung (Russland), Politische und Kriegerische Hilfen gegen US-Amerikanisches Frackinggas und militärische Sicherheit (USA). Würde die Europäische Union und Deutschland im Besonderen vehement für ihre freiheitlichen Werte einstehen, dürften wir diese Geschäfte nicht länger eingehen. Allerdings möchte niemand im Winter frieren, und das ist Dilemma.

Ein Weg in eine Autonomie kann eine konsequente Verstromung aller unserer Energieverbraucher sein, von Verkehr (Elektromobilität oder durch Elektrolyse erzeugter Wasserstoff), über Heizen (Nachtspeicheröfen, Thermosolar) bis hin zur energieintensiven Industrie (Stahl, Aluminium, Chemie etc.) Ob die erforderliche Wärme zur Stahlerzeugung in einem durch Kohle angeheizten Hochofen oder durch elektrische Spülen erzeugt wird, ist aus produktionstechnischer Sicht egal. Wichtig ist jedoch, dass der nötige Strom in Europa erzeugt, aus regenerativen Quellen stammt und CO2 neutral ist. Nur so können wir zwei wichtige Ziele erlangen:
  1. Eine Konzentration unserer Bemühungen zur klimaneutralen Energieerzeugung erreichen (durch höhere Nutzung von Elektrizität in Verkehr, Produktion und Wärmeerzeugung) und damit eine massive Reduktion der Komplexität unserer Energiewende. Wenn jede Gas- und Ölheizung durch Nachtspeicheröfen ersetzt werden würde, könnten wir auf Gaslieferungen aus dem Ausland verzichten. Wir könnten Nachtspeicheröfen auch als Energiespeicher nutzen um eine bessere Grundlast im Stromnetz zu gewährleisten. Es braucht dafür einen guten 100% Ökostrommix (Wind, Sonne, Wasser), intelligente Heizgeräte und sehr viele neue Stromtrassen. Also alles Dinge, die im Rahmen der Energiewende ohnehin angegangen werden müssen.
  2. Wir könnten eine stark sinkende Abhängigkeit zum Öl- und Gaspreis erlangen, der maßgeblich die Wirtschaftlichkeit und damit die privaten Investitionstätigkeiten in regenerative Energieerzeugung beeinflusst. Ohnehin stellt sich die Frage, warum regenerative Energiequellen im Wettbewerb zu fossilen Energieträgern stehen? Wir wenden Energie auf, um fossile Energie zu schöpfen. (siehe Abbildung) Bei endlichen fossilen Energieträgern muss daher der Energienettoertrag langfristig sinken, und dies tut es auch! Bei neuen tieferliegenden Ölfeldern, Ölsanden und Fracking ist der Energiebedarf gewaltig um überhaupt diese Brennstoffe nutzbar zu machen. Dieses Prinzip ist bei regenerativen Energien anders. Windräder und Photovoltaik müssen zwar energieintensiv erzeugt werden, benötigen aber im Betrieb keine zusätzliche, externe Energie. Einmal installiert, sorgen Windräder für eine kalkulierbare, immer gleiche Wirtschaftlichkeit. Die Kosten der Erzeugung sind konstant und stabil und unterliegen nicht wie bei fossilen Energieträgern einem Angebot/Nachfrage Prinzip.
Aus: https://pyrolysium.org/eroei/eroei/
Wie könnte das erreicht werden?
Stellen wir uns vor, wir hätten einen Park von 100 Windrädern, einen Schrottplatz, eine Stahlhütte und alle notwendigen Gewerke und Produktionsanlagen zum Bau weiterer Windräder. Der Strom, der durch den Windpark erzeugt wird, wird ausschließlich dafür genutzt, neue Windräder zu bauen. Jedes einzelne Windrad aus diesem Produktionscluster entstünde klimaneutral und wäre in der Gesamtenergiebilanz vom ersten Moment an positiv. Mit jedem weiteren Windrad, das aus diesem Cluster entstünde, vergrößert sich der klimaneutrale Energieoutput. Eine Kreislaufwirtschaft entstünde, die in sich geschlossen, autark und klimaneutral immer mehr Energie erzeugt. Nach 10 Jahren hätte man ausreichend Windränder gebaut und installiert, dass der Nettoenergieüberschuss ausreichte, um Millionen von Haushalten und Produktionsstätten mit Energie zu versorgen und das ohne weitere fossilen Ressourcen dafür zu benötigen oder in wirtschaftlicher Konkurrenz zu fossilen Brennstoffen zu stehen.
Mit einer autarken, klimaneutralen und kreislaufwirtschlichen Energieerzeugung würde der Strompreis auf Grenzkosten sinken und einen enormen Wettbewerbsvorteil gegenüber allen anderen Systemen der Produktion und Energiegewinnung werden: ohne Endlagerungsproblematik, ohne die energieintensive Industrie zu benachteiligen (Stichwort Industriestandort Deutschland), und ohne politische Abhängigkeiten gegenüber Drittstaaten. Ein Energieschlaraffenland!
Energie könnte langfristig sogar kostenfrei sein, wenn die Produktionscluster im Besitz der Gesellschaft wären. Unsere nachfolgenden Generationen würden gewaltige Rendite erwirtschaften können, wenn Wertschöpfung nur noch von Arbeit und Kapital, nicht mehr von Energie abhinge, im Übrigen auch ein Standortvorteil für Künstliche Intelligenz. Denn was vielen nicht bewusst ist: Das antrainieren von Algorithmen braucht sehr, sehr viel Energie und erzeugt enorm viel CO2. (siehe Abbildung) Im postindustriellen Zeitalter könnten Energiesicherheit und Energiekosten sogar noch wichtiger werden als das im industriellen Zeitalter der Fall war.

MIT Technology Review: CO2 Fußabdruck des Algorhimus "Transformer" Januar 2019

Die Autonomie und Autarkie der Energiefrage ist meiner Ansicht nach das strategische Projekt zur Sicherung unseres Wohlstandes im Einklang mit Natur und sozialen Marktwirtschaft. Es braucht lediglich einen Anfang und einen klaren Kurs, jeden Heiz- und Produktionsprozess von fossilen Brennstoffen auf Strom oder Wasserstoff umzustellen. Mit der Energiewende wäre prinzipiell auch eine Energiedividende möglich, die zukünftigen Generationen bei der Finanzierung der Gesellschaft hilft, ähnlich dem Norwegischen Staatsfond, der die (endlichen) Öleinnahmen von heute für zukünftige Generationen anlegt.





1.2 Freier Wille: Ein Update der Demokratie gegen Agendasetting, Framing und Lobbyismus

In der öffentlichen Debatte werden stets Maßnahmen und Ziele verwechselt. So wird gestritten darüber ob Maßnahme A oder Gesetz B die sinnvollere Lösung eines Problems ist, es wird aber nie über die Prioritäten unserer Probleme debattiert. Sachgrundlose Befristung, Kohleausstieg, Gute-Kita-Gesetz sind Maßnahmen zur Lösung eines Problems, aber sie sagen wenig über das Ziel, unsere Strategie selbst und noch viel weniger über die Prioritäten unserer Probleme aus. Woran wurde beispielsweise während der Koalitionsverhandlungen festgemacht, dass die PKW Maut ein dringendes und wichtiges Anliegen der Deutschen ist? Die PKW Maut stellt lediglich eine Maßnahme zur besseren Finanzierung der Infrastruktur dar, aber ist die Finanzierung der Infrastruktur unser höchst-priorisiertes Anliegen? In Zeiten niedriger Zinsen und hoher Steuereinnahmen?  Oder:
Wie konnte Merkel Kabinett 1 eine Mehrwertsteuererhöhung von 3% umsetzen, wobei beide Koalitionspartner im Wahlkampf max. 2% forderten? Warum beschäftigte sich das Merkel Kabinett 2 mit der Mehrwertsteuersenkung für die Hotellerie? War das zu dem Zeitpunkt wichtig? Oder das Kabinett 3 mit PKW Maut und Mütterrente? Kabinett 4 mit dem Heimatministerium? Wann immer es zu Koalitionsverhandlungen kommt, scheint die Logik von Wichtigkeit und Dringlichkeit vor der Tür zu bleiben und so landen Themen im Koalitionsvertrag (der bindend ist), die weder wichtig noch dringend sind. Manche nennen diesen Verhandlungsprozess einen demokratischen „Kompromiss“, ich halte aber einen Kompromiss in der Prioritätensetzung für viel wichtiger, als einen Kompromiss über wahllos zusammengesetzte Maßnahmen.
Prioritäten stellen schließlich auch einen Fahrplan dar, der die richtigen, demokratischen Entscheidungen im Einklang unserer langfristigen Strategie und damit dem Zielbild unserer Gesellschaft von morgen ordnet. Im aktuellen politischen Betrieb werden Prioritäten denkbar schlecht ermittelt. Sie sind durch Krisen, Einflussnahme von Drittstaaten, Lobbyismus, Agendasetting und reichweitenstarke Meinungsmacher beeinflusst. Die Wähler kennen weder die Hintergründe noch die Absichten dieser Beeinflussung, was einen zutiefst undemokratischen Zustand darstellt. Darüber hinaus erstickt das inflationär betriebene Framing jedwede inhaltliche Diskussion. Es versimpelt komplexe Zusammenhänge und verengt die Perspektive auf etwaige bessere Lösungen.

Der demokratische Weg – über Parteiprogramm und Programmatik – setzt Prioritäten aufgrund von Wahl- und Meinungsumfragen. Parteien stochern solange im Dunklen, was den Wählern unter den Nägeln brennen könnte und lesen die Richtigkeit ihrer Themensetzung an den Zustimmungswerten der Sonntagsfrage ab. Dabei sollte jeder, der mit repräsentativen Meinungsumfragen arbeitet, wissen, dass selbst bei übertrieben großen Stichproben letztlich die Wichtigkeit von Themen genau die sind, die zuvor die größte mediale Aufmerksamkeit und damit Reichweite erhielten. Umfragen bilden meisten Themenreichweiten ab. Wenn also Meinungsumfragen, die Wichtigkeit von Themen abbilden, die durch Medienreichweite erzeugt wurde, die wiederum unter oben genannten Einflüssen stehen (Agendasetting, Krisen, Lobbyismus), dann sollten Meinungsumfragen nicht das Mittel der Wahl sein, um Prioritäten abzulesen.
Erschwerend kommt hinzu, dass Parteiprogramme durch Parteitagsbeschlüsse oder Urwahlen legitimiert werden, die unter den gleichen Einflüssen (PR, Öffentlichkeitsarbeit etc) stehen können.
Der heutige Weg der politischen Prioritätensetzung ist somit wenig transparent, wenig effizient, wenig demokratisch und – am schwerwiegendsten - wenig strategisch-langfristig angelegt. Und ich bilde mir ein, dass man das als Kleinteiligkeit deutscher Politik wahrnehmen kann.

Daher halte ich eine Trennung zwischen Lösungsfindung und Prioritätensetzung dringend empfehlenswert, um unabhängige Politik mit Weitsicht für die Bevölkerung umzusetzen. 


Diese Trennung kann gelingen, indem unser demokratischer Prozess ein Update erhält.
Nach wie vor wählen wir mit unserer Erst- und Zweitstimme die politischen Mehrheiten im Parlament. Nach dem Update erhält jedoch jeder Wähler eine dritte Stimme, mit der er die Schwerpunktsetzung der nächsten Regierung bestimmt. Angenommen eine unabhängige Kommission, oder vielleicht sogar basisdemokratische Elemente (Petitionen, Vorwahlen etc.) sorgen für eine Vorverdichtung und Auswahl von – sagen wir mal - 20 Themen: Innere Sicherheit, Vermögensverteilung, Altersvorsorge, Pflege, Bildung, Gesundheitsversorgung, Besteuerung, Außenpolitik etc.
Der Wähler wählt aus dieser Liste aus, was die höchste Priorität in den nächsten 4 Jahren erfahren sollte. Am Ende eines Wahlabends erhalten wir eine Rangfolge der Schwerpunkte des Regierungsprogramms, und die „Tonalität“, wie diese Schwerpunkte angegangen werden sollen: Konservativ, progressiv, links, rechts, grün, liberal etc. 


Was wir dadurch erreichen könnten:

  1. Populistische Kräfte werden extrem geschwächt
    Ein-Thema-Parteien können nicht durch Profilierung und Zuspitzung im Wahlkampf die gesamte politische Debatte bestimmen, wie es die AfD zum Beispiel im vergangenen Wahlkampf tat. Migration war lediglich nur eine Herausforderung unter sehr vielen, dennoch war die Presse- und Debattenabdeckung vollkommen von diesem Thema überschattet. Würde die „To Do“ Liste durch den Wähler bestimmt, würden sich unsere Debatten um die besten Ideen und Lösungskonzepte aller wichtigen Fragestellungen drehen und nicht nur um einzelne Fragen.
  2. Kompetenzen gewinnen Wahlen
    Da in diesem Verfahren lösungsorientiert gearbeitet werden muss, werden Politiker und Parteien mit einem hohen Maß an fachlicher Kompetenz und Verhandlungsgeschick das Vertrauen der Wähler gewinnen. Taktieren und parteipolitisches Geschachere würden ins Leere laufen, da die Agenda bereits vorgegeben ist. Der wachsende Vorwurf, wir würden aktuell von Berufspolitiker ohne Kontakt zur Alltagsrealität der Menschen regiert, wäre dann kein Vorwurf mehr, sondern vielmehr eine Kompetenzzuschreibung: zu wissen wie man Mehrheiten beschafft und zu tragfähigen Lösungen kommt.
  3. Transparente Koalitionsverhandlungen Undurchsichtige Deals und Einflussnahme Dritter (Lobbyismus) würden in diesem Verfahren nicht mehr funktionieren, denn a) ist im Vorfeld transparent, worum es in den Verhandlungen gehen wird, und b) Lobbyisten, Verbände  und „Netzwerke“ vorher nicht wissen können, welche Themen vom Volk als wichtig erachtet werden. Auch ändern sich Ansprechpartner, die mit der Lösung des Problems beauftragt werden. Das erschwert die politische Einflussnahme von Interessensgruppen enorm!
  4. Renaissance der Programmatik / Ideologien
     
    In einem solchen getrennten Verfahren wird es interessant zu beobachten sein, wie Parteien um die Wählergunst werben werden. Zwar können Parteien immer noch Schwerpunkte im Wahlkampf setzen und aber sie wissen nicht, ob sie auch mit der Lösungsfindung dieser beauftragt werden. (Z.B. CDU/CSU müsste das Klimaproblem lösen, oder die Grünen müssten sich mit innerer Sicherheit beschäftigen). Wähler würden zunehmend auf die Tonalität achten, sich z.B. eine liberale Lösung für Problem XY wünschen oder eine grüne Antwort auf Herausforderung Z.
    Parteien müssten daher wieder deutlich mehr Energie in programmatische, ideologisch und auch visionäre Gedanken investieren und langfristigen Gesellschaftskonzepte entwickeln, da der Wähler ihnen durchaus auch sachfremde Thematiken anvertrauen wird.
  5. Keine besorgten Bürger mehr Nehmt die Sorgen der Bürger ernst? Mit der dritten Stimme kein Problem.
  6. Endlich mehr Demokratie wagen
     
    Die dritte Stimme kann auch als Einstieg in eine basis-demokratischere Zukunft sein. Wo Petitionen (Schon einmal eine ePetition gestartet? Good luck!), Volksentscheide oder gar Liquid-Democracy-Ansätze scheiterten: Sie liefern die Lösung für ein Problem immer gleich mit. „Das und das  verhindern“, „X und Y einführen“ unterstellt eine eindimensionale Lösung für ein Problem. Volksentscheide können lediglich für oder gegen etwas sein. Es gibt aber nicht das Antwortfeld: „Ja, das ist mir wichtig, aber ich präferiere eine andere Lösung“ Unsere Welt ist nicht mehr so einfach oder langsam, wie sie es vielleicht vor 40 Jahren noch war. Jede Entscheidung zieht etliche unbekannte Folgen nach sich, die in einem Volksbegehren nie vollumfänglich erörtert werden können. Es gibt eben kein Wettstreit um die besten Lösungen, nur einen für oder gegen die diese Lösung. Daher kann eine dritte Stimme der Anfang sein, unsere politische Kultur nachhaltig zu verändern und den Weg in basis-demokratischere Zukunft ebnen.
Wirklich visionäre wird, wenn mit der dritten Stimme ein Budget verküpft wäre. So könnten Wähler*innen nicht nur die Dringlichkeit von Themen, sondern auch noch ein Investitionsvolumen zur Umsetzung allokieren.  Gäbe es Überschüsse oder Dividenden, könnte der Soverän ähnlich einer Aktionärsversammlung darüber bestimmen, ob Überschüsse ausgeschüttet, reinvestiert oder angelegt werden sollen. 

Erstaunlich viele positive Folgen, die durch ein solches Vorgehen entstehen können. Es lohnt sich durchaus, darüber nachzudenken. 





1.3 Freies Wissen als öffentliches, kostenloses Gut





So sehr ich versuche, einen richtigen oder auch nur logischen Zusammenhang zu finden, es gelingt mir nicht: Warum hält ein Wissenschaftsverlag wie z.B. Elsevier die Veröffentlichungsrechte an Forschungsergebnissen, die durch öffentliche Gelder finanziert wurden? Und warum verkauft eben dieser Verlag (und noch viele weitere Verlage wie Springer), diese Forschungsergebnisse unverhältnismäßig teuer wieder zurück an Universitätsbibliotheken und Forschungsgesellschaften, von denen sie eigentlich stammen? In diesem System zahlt der Staat und damit die Bürger dreifach für eine Forschung: Es finanziert die universitäre Forschung, den Veröffentlichungsprozess dieser und die spätere Nutzung in Form von überteuerten Zeitschriftenabos (bis zu 40.000€ / Jahr für eine Fachzeitschrift!). Die Umsatzrendite von Elsevier lag 2016 bei verwerflichen 40%! Ein Umstand, dass jedweder Logik und Moral entbehrt. 

Man stelle sich nun vor, dass Wissen der Welt wäre frei verfügbar. Ein Wikipedia für Patente, Forschungen und Daten. Jeder hätte die Möglichkeit, auf bereits bestehendem Wissen, neue Technologien, gesellschaftliche Innovationen und vieles mehr zu entwickeln. Es gibt zugegebener Maßen bereits einige Open Source und Open Access Projekte und auch Boykotte, die genau das versuchen: das Wissen zu Vergesellschaftlichen, den Zugang offen zu gestalten, nur stehen wirtschaftliche Interessen von Rechteinhabern dem in vielen Fällen entgegen. Weiterhin kümmern sich diese Initiativen lediglich um wissenschaftliche Publikationen, der akademischen Veröffentlichungsprozess. Patente zum Beispiel sind dort nicht berücksichtigt, aber gerade Patente sind realwirtschaftlich von größer Bedeutung, sie werden mitunter von Konzernen gekauft, nicht um sie ein- und umzusetzen, sondern konkurrierende Technologien zu unterdrücken und Wettbewerb zu verhindern. Dies steht im krassen Gegensatz zum kapitalistischen, marktwirtschaftlichen Grundprinzip. In einer (Wissens-)ökonomie müssten stets die besten Konzepte gewinnen, aber in der Realität spielen andere Faktoren eine Rolle: Finanzkraft, Marktzugang, geschlossene Ökosysteme. Diese Faktoren verhindern Wettbewerb statt ihn zu fördern. 

In einer Gesellschaft, wo Verfahrenstechniken, Daten und Patente frei wären, könnten Innovationen schneller entstehen. Angenommen, sämtliche Forschung und Entwicklung würde durch öffentliche Felder finanziert werden um Grundlagenforschung, neue Verfahren und Methoden zu erzeugen und sie dem Markt kostenlos zur Verfügung zu stellen. Was würde passieren? 

Es würden private Marktteilnehmer Patente nutzen und sich auf die Vermarktung und Verteilung von Innovationen spezialisieren. Andere würden sich auf die Produktion spezialisieren. Sie würden Patente nutzen und sie marktfähig machen. Es entstünde ein Effizienzwettbewerb zur schnellsten und wirtschaftlich sinnvollsten Nutzung neuer Erkenntnisse. Sowohl die Vermarktung als auch Produktion müsste sicherstellen, dies so effizient wie möglich zu tun, um langfristig am Markt überleben zu können. 

Das Kapital fließt in einem solchen Szenario zu jenen Wirtschaftseinheiten, die ihre Prozesse, ihre Verfahren stetig optimieren um rentabel zu bleiben. Belohnt würde also der kontinuierliche Verbesserungsprozess, der Fortschritt und die Weiterentwicklung und nicht das geschlossene System, die Monopolisierung oder die Höhe der Eintrittsbarrieren in einer Branche wie es aktuell der Fall ist. 

Viele Kritiker sehen in der Vergesellschaftung von Patenten den Tod der Innovation und des Fortschritts. Warum sollten Unternehmen in F&E investieren, wenn ihnen daraus kein Wettbewerbsvorteil erwächst. Nun, das können sie weiterhin tun bzw. wird es auch nötig sein, eigene Forschung und Entwicklung zu betreiben, um die Anwendbarkeit von neuen öffentlichen Patenten für ihre Industrie sicherzustellen. Ich bin überzeugt, offene Patente würde die Innovationskraft- und -geschwindigkeit auf ein vollkommen neues Level heben!

Auch werden sicher einige Leser vermuten, dass die öffentlichen Haushalte nicht ausreichen werden, um den gesamten F&E Aufwand Deutschlands oder Europas zu decken. 
Schon heute werden Patente lizensiert, wodurch der Patentinhaber Einkommen erzielt. In meiner Utopie ist der Patentinhaber der Staat und vergibt kostenlos Lizenzen (Nutzungsrechte) nach transparenten Regelungen an Dritte. Jeder inkrementelle Euro Umsatz, der durch die Vermarktung der Patente durch private Wirtschaftseinheiten entstünde, erzeugt wiederum Unternehmenssteuern für den Staat. Würde die durchschnittliche F&E Quote der deutschen Industrie, die je nach Angaben zwischen 3% und 7% ihres Umsatzes liegt, als F&E Aufschlag auf die Unternehmensbesteuerung (z.B. Umsatzsteuer) erhoben, wäre ebenso viel Geld verfügbar, wie bei einer Finanzierung jedes einzelnen Unternehmens der Fall ist. Nur könnte die Forschung gebündelter und effizienter gestaltet werden. Bosch oder Siemens würde von Erkenntnissen aus der Fusionskraft profitieren, oder Bayer von der Charité. Oder der mittelständische Spezialmaschinenhersteller von den neuen Pressverfahren der KIT oder einer anderen Helmholtzgesellschaft. Und das kostenfrei! 

Es klingt natürlich in Zeiten von BER absurd, dass ausgerechnet der Staat für Innovationen sorgen kann, aber im 21. Jahrhundert werden Bildung, Wissenschaft und Forschung jene Bereiche sein, die Wohlstand erzeugen. In einer Digitalwirtschaft spielen Produktions- und Herstellungskosten heute schon keine Rolle mehr und in einer zunehmend automatisierten und digitalisierten Arbeitswelt nimmt die Bedeutung (und berufliche Attraktivität) die „klassischen“ Facharbeiter/in weiter ab. Es ist schlicht notwendig, alle Bereiche in eine Wissensgesellschaft zu transformieren. Und mal ehrlich: eine Gesellschaft der Dichter, Denker und Forscher ist ausnahmsweise ein positives Bild der Zukunft!


Außerdem sind visionäre Technologien immer staatlich finanziert und gefördert worden: 

Grundlagenforschung, die Atomkraft, GPS & Galileo, die Raumfahrt, (das Apolloprogramm war in der Hochphase der 1960 und 70er Jahre sogar im 10-Jährigen Mittel mit 2,5% der US Bruttoinlandsproduktgigantisch teuer), das Internet und WWW, die Fusionskraft und so weiter.
Selbst das iPhone, dass als Sinnbild privatwirtschaftlicher Innovation gefeiert wird, besteht ausschließlich aus Einzeltechnologien, die vom Staat finanziert wurden (
siehe Mariana Mazzucato: Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum)




Das ist kein Plädoyer gegen die Marktwirtschaft! Ich halte die Marktwirtschaft für ein extrem effizientes Prinzip, die Ressourcen und Mittel auf der „letzten“ Meile optimal zu verteilen und so Technologien und Produkte effizient und nutzerfreundlich zur Marktreife zu bringen. Aber die freie Marktwirtschaft würde nie in vollkommen unsicheren Bereichen forschen, deren Machbarkeit nicht sicher ist oder der Return-on-Investment nicht in den nächsten 10 Jahren positiv ausfallen würde. Kein privater Investor glaubt in visionäre Technologien die zur Erlangung der Marktreife länger als ein Menschleben benötigen wird, denn er würde die Rendite des Risikos zu Lebzeiten nicht mehr erleben können. Staaten jedoch müssen diesen zeitlichen Horizont haben. Es sichert die Unabhängigkeit zukünftiger Generationen und damit der Steuereinnahmen der Zukunft. Und mit jeder revolutionären Technologie entsteht auch ein Markt, der Steuern und Arbeitsplätze generiert. Die privatwirtschaftliche Nutzung von öffentlichen Patenten müsste natürlich an Bedingungen geknüpft sein, zum Beispiel dass sie nur an im deutschen oder europäischen Binnenmarkt ansässigen Firmen vergeben dürfen, die sich verpflichten, Steuern in Deutschland oder Europa zu entrichten und Arbeitnehmerrechte einhalten, als auch die Vermarktung der Technologie innerhalb einer gewissen Umsetzungsfriste realisieren. Ein solches System würde die europäische Wettbewerbsfähigkeit enorm stärken und zugleich unsere solidarischen und freiheitlichen Werte schützen können. Da die Patente im Besitz des Volkes sind, ist auch eine langfristig angelegte „Dividende“ möglich, die die Bevölkerung in 20, 40 oder 100 Jahren zu Gute kommen kann.
Ebenfalls wäre der Staat und die Unternehmen gleichermaßen daran interessiert, Spitzenwissenschaft in Europa zu etablieren und intensiv in Bildung zu investieren, das weit über das übliche Lippenbekenntnis hinausginge. Würden sich im Binnenmarkt keine Interessenten für ein Patent finden lassen, könnte der Staat selbst in die internationale Vermarktung dessen treten und Lizenzgebühren gegenüber außereuropäischen Unternehmen die F&E Aufwendungen gegenfinanzieren. Oder Unternehmen anlocken, ihren Hauptsitz nach Europa zu verlagern um in den Genuss der freien Patente zu kommen.
In einem solchen System würde tatsächlich so etwas wie eine Wissensökonomie entstehen können, die post-kapitalistisch, fortschrittsoptimistisch und solidarisch gleichermaßen ist. Free patient!


Fazit Kapitel Autonomie
Wenn wir eine Gesellschaft entwickeln, die die Herausforderungen der Automatisierung, Digitalisierung und Globalisierung menschlich, solidarisch und nachhaltig gestalten will, kann das nur durch Autonomie in der Energie, in Wissensgenerierung und in der gemeinschaftlichen Verteilung der Dividenden geschehen. Verringern wird die Abhängigkeit in den zentralen Bereichen Politik, Energie und Wissen, können wir den Fortschritt zum Wohle dieser und nächster Generationen ummünzen. Packen wir’s an?


HINWEIS:
Ich betrachte die Ausführungen als Debattenauftakt! Es ist mir vollkommen klar, dass sie weder historischen, philosophischen, soziologischen oder sonstigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. In den kommenden Wochen werden weitere Teile hier erscheinen. 

Kommentare, Anmerkungen, Kritik oder gar ein Mitwirken sind ausdrücklich erwünscht. 
Per Kontaktformular, Linkedin, Twitter oder im persönlichen Gespräch.

Florian L.

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