Weder Fisch noch Fleisch – deutsche Mittelstädte

9/30/2017 11:32:00 PM


Samstag - früher Nachmittag - Sofa - leichte Kater vom Vorabend. Man hatte wider des guten mütterlichen Ratschlags nicht vernünftig zu Abend gegessen, bevor man in der Kneipe das Wochenende begossen und die großen politische Geschehnisse mit Obstler und Faßbier durchdiskutiert hatte. Dieser demütige Moment auf dem Sofa ist taktisch der beste Zeitpunkt, allen erklärten Feinden des Spießbürgertums etwas nachhaltig Hinterhältiges unterzujubeln: den Spieleabend bei Freunden.


Spieleabende sind der Inbegriff der Langeweile - ein Brettspiel wird als "wirklich lustig" angepriesen, das Raclette-Geschirr aufgefahren, es gibt billigen Analogkäse mit Mais (weil es so schön praktisch und "kostengünstig" ist), zum Rauchen in den Hof und moderater Alkoholkonsum „Nochnbier? Nee danke, für mich lieber nichts mehr. Will morgen Sport machen.“ Die Hölle auf Erden für jeden Punkrocker. „Siedler von Catan ist wirklich komplex, das wird dir gefallen“ Nen Scheiß!

Doch dieser Albtraum kann verhindert werden! Bevor der nächste schwache Moment auf dem Sofa naht, schlage deinen Relatives proaktiv einen „alternativen“ Spieleabend vor: Den Statistikabend!

Die Regeln sind einfach: In eine Kneipe gehen. Stift, Notizblock und ein internetfähiges mobiles Endgerät bereithalten. Der, der sein Getränk als letztes bekommen hat, eröffnet die Runde: „Wie viele Einwohner hat eigentlich Paderborn?“ Alle schreiben ihre Schätzung verdeckt auf einen Zettel. Anschließend wird aufgedeckt, bei Wikipedia nachgeschaut. Der, der am dichtesten an der richtigen Einwohnerzahl liegt, bekommt einen Punkt. That‘s it. Kein Brett, kein Raclettescheiß, rauchen und saufen flexibel und in jeder Intensität integrierbar.

Ich als ausgewiesener Statistikfreund spiele dieses Spiel schon seit Jahren mit meinen Kumpels. Und es ist schwieriger als man glaubt: Es gibt 79 Großstädte in Deutschland. Weit über hundert Millionenstädte in China! Und…es gibt 612 Mittelstädte in Deutschland – womit wir ENDLICH beim Thema wären.


Deutsche Mittelstädte - wer sind sie und wie klingen sie?


Mittelstädte sind ein Mysterium, man kennt sie von Autobahnabfahrten, fährt gelegentlich durch sie hindurch, wegen der vielen Blitzer aber lieber drum herum. Ausgenommen vom Spielbetrieb der Handballbundesliga finden sie in keinerlei Nachrichtenmeldung Erwähnung und dennoch wohnt jeder vierte Deutsche in einer Mittelstadt. Klar ist, Mittelstädter sind nicht die beschleunigten ultra-liberalen Zeitgenossen wie ihre Verwandten in Großstädten, aber auch nicht die liebenswürdig-kauzigen Romantiker vom Lande. Man tut sich schwer mit Schubladen.

Die Demoskopie unterscheidet in kleine (20-50.000) und große Mittelstädte (50-100.000 Einwohner), die sich jeweils an die nächste Stadtkategorie orientiert (Klein- oder Großstadt). Zusätzlich gibt es prosperierende und schrumpfende Mittelstädte, und jene mit Versorgungsfunktion und ohne (w.z.B. reine Schlafstädte wie Delmenhorst, Hildesheim etc.) Verwirrende, wa? Dieser Blog wäre nicht ein waschechter Datenberaterblog, wenn nicht ein wenig Orientierung im Alltag geboten würde, standesgemäß in Form einer klassischen BCG 4-Felder-Matrix zur Situation deutscher Mittelstädte:


Sämtliche 612 Städte nach Wachstum (2000 vs. 2015) und Größe (2015) geplotted sieht es naturgemäß deutlich weniger actionable und tangible aus, aber man erkennt eindeutig wo der deutsche Mittelstädter wohnt, nämlich in NRW, Niedersachsen, Bayern und Hessen. Im sächsischen Hoyerswerda hingegen wohnt kaum noch jemand und das ist nach einem Besuch dieser Stadt auch sonnenklar: Hoyerswerda ist verloren. Früher waren sie dort entweder schon mittags blau oder ganztags braun. Heute sind sie einheitlich blau.



Soviel zur Statistik. Wirklich spannend wird es allerdings, wenn man sich in das deutsche Liedgut über Mittelstädte reinhört. Punk ist das bestimmende Genre. Manchmal gehts auch ein wenig volkstümlich zu, aber das ist doch eher die Ausnahme. Eine Auswahl an Songs über deutsche Mittelstädte sind in nachfolgender, interaktiven Karte zu sehen. Besungen werden die großen Mittelstädte. Es geht um Haltung, Mitleid und Mahnung.




Einige prominente Bands haben Songs über Mittelstädte geschrieben. Der Überhit aller Mittelstädte ist - natürlich - Delmenhorst von Element of Crime. Sven Regener fasst dort die gesamte Misere aber auch Hoffnung in einer einzigen Textzeile zusammen:

"Ob ich wirklich Sport betreibe, interessiert hier keine Sau"


Würde ich jemals gefragt werden, was für mich eine Mittelstadt ausmacht, zitierte ich eben diese Zeile von Element of Crime. Überhaupt sind die Lyrics die Stars dieser Mittelstadtsongs, verdichten sie doch besser als jede Sozialstudie oder Datenanalyse es je könnte. Ein kleine Auswahl:

"Wodka Saufen mit den Parkplatz-Russen, weil wir ja sonst nix zu starten wussten (...) Eine Schlägerei am Autoscouter beginnt hier schnell mal auszuufern - Oh Minden, hier kannste immer Ärger finden." - zero/zero


"Auf einmal ist dein Leben so, wie Cottbus im Regen: nicht gerade schön" - Benzin


"Auf der Straße nach Gütersloh findst du kein Glück, das liegt anderswo." - Oliver Jahn & Band


"In Hildesheim da kann es manchmal anders sein, (...) da wirkt die Großstadt ziemlich klein (...) da will man manchmal lauthals schrein. Du glaubtest dich kriegt man so schnell nicht klein, dann kamst du an, in Hildesheim" - Wunderbeer


Weiterhin droht in Zwickau der Tod, in Dessau und Greifswald gehts um braune Hetze, im Song Flensburger Memmen wird im gewohnten Punk-3-Akkord-Rhytmus "HÖRT AUF ZU FLENNEN" gebrüllt - ach diese schonungslose Ehrlichkeit, nirgends affektiertes Gehabe, nur das, was is und das was nich is. Es kann so einfach sein. Allen abgehobenen und umlandisolierten Großstadtleuten empfehle ich dringend, diese Playlist zu hören. Es erdet, versprochen.




VG
FL

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