Die Analyse - die Grenzen des guten Geschmacks I

Data Set/Methodik: Um die Bedeutung Tocotronics und nachfolgender Indie Bands analytisch herzuleiten, ist eine Datenquelle nötig, die besonders lange, historische Daten zur Verfügung gestellt. Google Trends liefert Daten ab 2004 und damit weitreichendste (und kostenlose) Datenquelle. Verkaufte Tonträger sind für diese Auswertung nicht geeignet, da sich das Musikbusiness in den vergangenen 20 Jahren massiv geändert und die Bands unterschiedlich lange Karrieren haben.
Das Suchinteresse (Search Interest) zu allen untersuchten Bands ist relativ zu Tocotronic und wurde anschließend standardisiert und indexiert. Daraus lässt sich nicht nur das Interesse einer Band über die Zeit ableiten, sondern auch deren Einfluss bzw.  Dominanz zu allen anderen Bands zu dieser Zeit. Dieser "Dominance Score" beschreibt die Stärke der Band in einem jeweiligen Zeitraum und schwankt von -2 bis +2.  Ist eine Band oder Generation im positiven Bereich, ist sie dominant gegenüber anderen dieser Zeit, je positiver, desto dominanter und damit prägender. Insgesamt habe ich 38 Bands aus verschiedenen Zeiten analysiert und in 4 Generationen zusammengefasst. Die Zuordnung in Generationen ist durch das Jahr des ersten EP- oder LP-Releases und meiner persönlichen musikalischen Einschätzung vorgenommen. Mir ist vollkommen klar, dass das Datenset und die Zuordnung weder vollumfänglich noch unangreifbar ist. Solltest du dennoch mit dem Gedanken spielen, die Analyse zu kritisieren, begegne ich dir prophylaktisch mit einem Zitat der längst vergessenen Hamburger Indie Band Concord: Ich fürchte fast, es ist mir egal.
Alle weiteren Daten kommen von Spotify, Musicbrainz und Wikipedia. 

Nachdem das Vorgeplänkel geklärt ist, kann es nun auch losgehen:
Welche Bedeutung hat die erste deutschsprachige Indie Band Generation (Hamburger Schule) und nachfolgende Generationen noch heute? Wagen wir einen Blick auf das Suchinteresse dieser Generationen seit 2004: 

Bedeutung der ersten und nachfolgenden Generationen deutschsprachiger Indie Bands 2004-2016

Es ist deutlich zu erkennen, dass die erste Generation (schwarze Linie) sich bereits ab 2004 eine Battle mit der zweiten Generation liefert. In den 1990er und frühen 2000er Jahren war der wirtschaftliche Erfolg der Hamburger Schule eher gering. Eurodance - und House dominierten die Charts, die Hamburger Schule war der Gegenentwurf zum Spaßtechno. Erst ab 2002 konnten Bands wie Kante, Tomte, Kettcar erste vorsichtige Charterfolge feiern. Mit diesem ersten Erfolg entstanden die gefühlsduseligen Majorlabel-Bands wie Silbermond und Revolverheld. Die Generation nach Tocotronic war in den Rotationsplaylists der Hitradios angekommen. Dennoch schaffte es die erste Generation immer wieder - wenn auch kurzzeitig - ihre Kinder zu übertrumpfen, etwa 2007 und 2010. Im Schatten der zweiten Generation wuchs auch schon die Dritte heran. Bands wie Jupiter Jones, Clueso, Juli und Co. waren noch einmal mehr poppiger als die Vorgängergeneration, die Songtexte noch weniger gesellschaftskritisch und zunehmend austauschbar. Der Ausverkauf der "independent" Deutsch-Grunge-PunkRock-Musik auf ihrem Höhepunkt. Und dennoch schaffte es die erste Generation noch einmal in den dominanten Bereich zu gelangen, Anfang 2013 - mit dem Release von Tocotronics "Wie wir leben wollen". In der Folge glichen sie sich wieder an sind - im übertragenen Sinne - bis 2015 gleichbedeutend. Tocotronic und die Sterne auf einer Höhe mit Silbermond und Philipp Poisel...OMG. Doch dann stieg die vierte Generation wie Phönix aus der Asche. Mit Bands wie Isolation Berlin, Trümmer, der Ringer und allen voran Annenmaykantereit ist seit Ende 2015 die vorerst letzte Generation deutschsprachiger Indiemusik die Dominierende.

Wer dominierte die Deutsche Indiemusik?

Nun zusammengefasst sehen wir ziemlich viel Bewegung in der deutschsprachigen Indie-Musik. Der geneigt Betrachter könnte darin aber auch einen Schweinezyklus der Plattenindustrie sehen. Erst wenn auch der letzte Rest an Authentizität einer Phase ausvermarktet ist, lässt man wieder neue Entwicklungen zu.
Doch welche Band dominierte eigentlich ihre Generation, war Treiber ihrer Indie-Bewegung?

Dazu habe ich drei Scores entwickelt, die die jeweilige Bedeutung einer Band zusammenfasst. Die Dominance-Scores drücken aus, wie führend - relativ zu allen Bands dieser Zeit - eine Gruppe gewesen ist. Wird der Score negativ, war die Band eher Mitläufer, ist der Score positiv eher Gestalter einer Bewegung:

• Total Dominance - kumulierte Dominanz seit 2004, um die bedeutendste Band der letzten 12 Jahre zu krönen
• Zeitgeist Dominance - kumulierte Dominanz seit der Veröffentlichung der ersten EP/LP, um unterschiedlich lange Schaffensdauer zu berücksichtigen
• Average Yearly Dominance - durchschnittliche Dominanz seit der ersten EP/LP, um Onehit Wonder von Langzeiterfolgen zu unterscheiden

Here we go; Die wahre Bedeutung von Bands ihrer Generation:


Was wir sehen:

• 1st Generation: Tocotronic ist und bleibt die gestaltende Kraft der ersten Indie-Generation. Mutter, die zwar eher dem Punk und Punkrock zugeschrieben werden, konnten trotz ihres bestätigten Einflusses auf Bands wir Sonic Youth keine nennenswerte Bedeutung aufbauen. Ob ihr neues Album (VÖ März 2017) etwas daran ändert, wird sich noch zeigen. Interessant: Alle 4 Bands sind noch aktiv! Selbst Die Regierung mit Tilman Rossmy tourt wieder.
• 2nd Generation: Oha, Madsen und Silbermond als die Treiber der zweiten Generation. Das ist bitter. Für alle Beteiligten. Im Falle Madsen sogar umso erstaunlicher, da die Band um die 3 Brüder Madsen sogar den höchsten jährlichen Dominanzscore aller untersuchten Bands aufweist. WTF? Was man ihnen zu gute halten muss, ist: Sie haben tatsächlich beständig Alben gleicher Qualität abgeliefert. Ich spare mir an dieser Stelle mal die Einordnung der Qualtität;)
• 3rd Generation: Kraftklub - Juli - Philipp Poisel lauten die Gestalter der 3. Welle deutschsprachiger Indiemusik. Das ist überraschend. Zumindest bei Philipp Poisel hätte ich nicht erwartet, dass der Typ so häufig und so beständig gegoogelt wird. Unverständlich!
• 4th Generation: Gut, diese Generation ist gerade stark am kommen, doch ist der alleinige Treiber Annenmaykantereit, die es auf einen beachtlichen Dominance Score von 77 bringen - etwa so viel wie "Wir Sind Helden" oder "Die Sterne" in ihrer gesamten Karriere. Das ist erstaunlich aber wenig verwunderlich bei der medialen Aufmerksamkeit, die ihnen entgegengebracht wurde (Stichwort Authentizität: "die haben nicht mal einen Plattenvertrag!")

Gut, nun haben wir die verschiedenen Generationen verstanden, doch welche Indie Band ist denn nun die bedeutendste der letzten 12 Jahre?


Ich bin fassungslos. Silbermond?! Ich hasse Silbermond. Und Tocotronic nur auf Platz 5, die Sterne auf 9. Mit Sicherheit spiegelt das Ranking den kommerziellen Erfolg dieser Bands wieder. Im Zeitalter des Post- & Alternativfaktischen wäre jetzt eine gute Gelegenheit, diese Erkenntnis als Fake zu titulieren. Allen, die noch an das Gute in Daten glauben, sei an dieser Stelle gesagt: Die Wahrheit muss uns nicht gefallen.

Bandinteresse im Zeitverlauf 

Wie auch immer, es gibt ja noch andere wichtige Perspektiven, die die Bedeutung einer Band beschreiben, z.B. wie kontinuierlich eine Band "abliefert". Letztlich kann ein hoher Dominance Score auch durch einen extremen Peak in der Karriere einer Band entstehen. Daher sollten wir einen Blick auf ihre Karrieren werfen, um zu verstehen, ob es sich um One-Hit-Wonder oder Marathonläufer-Musiker handelt. Dazu schauen wir uns das Suchinteresse der Indie Bands über die Zeit an. Der Monat 0 beschreibt den Höhepunkt der Karriere dieser Band - nie wieder vorher oder nachher konnte die Band mehr Suchinteresse auf Google erzeugen (Abweichungen durch Smoothing möglich).
Nutzt die Auswahl auf der rechten Seite der Grafik zum highlighten von Bands.


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Was wir sehen: Wenn also eine Band weit vor ihrem Höhepunkt bereits gesucht wurde, steht das für eine gewisse Vorgeschichte einer Band, wie z.B. bei Frittenbude. Das erste Album war nicht gleich in allen einschlägigen Medien - die Band konnte sich entwickeln. Andere hingegen sind reine One Hit Wonders, z.B. Hund am Strand oder Polarkreis18 (ein Chartopfer mit Allein, Allein).
Wirklich starke Karrieren schaffen es immer wieder, signifikantes Interesse an der Musik - vorrangig durch neue Veröffentlichungen -  zu erzielen: Bestes Beispiel: Tocotronic oder Die Sterne.

Soweit so gut. Bleibt noch eine Frage offen: Werden bedeutende Bands heute noch gehört?


Dazu eine zugegebenermaßen schwierig zu lesende Darstellung.
Auf der Y-Achse findet ihr nachfolgend den Lifetime Dominance Score (seit erster Veröffentlichung), auf der X-Achse den Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung (gruppiert) und die Größe der Kreise beschreibt die Anzahl der monatlichen Hörer dieser Band auf Spotify:


Was wir sehen:
1. Alte Bands werden kaum gehört, völlig egal wie bedeutsam sie sind oder waren.
2. Kommerziell erfolgreiche und noch immer aktive Bands der zweiten und dritten Generation werden auch heute noch stark gehört.
3. Feuilleton-gehypte IndieBands wie Isolation Berlin tauchen im Vergleich zu Silbermond oder Clueso im alltäglichen Musikkonsum des Durchschnitts-Spotifyer nicht auf.

Das Schlussplädoyer: Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen

Was bedeutet das für die Musikindustrie? Und für die "Indiebands"?
Nüchtern betrachtet: Die Subkultur, wie es die Independent Musik einmal war, ist ausverkauft. Es haben nur noch Bands eine gewisse Relevanz, die auch massentauglich vermarket werden können. Lieber einen "dicken" Chart-Erfolg und nix weiteres nachliefern, als eine Bewegung mitgestalten aber kaum gehört werden. Es ist wie so häufig im Leben, die kreative Gestaltungskraft ist monetär weniger wert, als die massenkompatible Kopie. Das können wir jeden Tag in gentrifizierten Stadtquartieren deutscher Großstädte beobachten aber auch in Kino-Produktionen. Der Kapitalgeber minimiert Ausfallrisiken; er hat kein Interesse an Kreativität, sondern lediglich am Profit. Deshalb werden alle Kanten rundgeschliffen, damit es dem Durchschnittskonsumenten nicht im Halse steckenbleibt. Nur leider verlieren dabei - Musiker wie Konsumenten - die Vielfalt kreativen Outputs. Auch Streaming wird daran nichts ändern.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!