Leben vor der Bühne

11/14/2020 10:01:00 PM

Das Covid-19 Dilemma legt auf allen Ebenen und Orten Abhängigkeiten offen, die man nie als bedenklich einstufte. Natürlich denkt man jetzt zuerst an gesellschaftliche Abhängigkeiten, von mies bezahlter Care Arbeit, Klopapier, FriseurInnen, globalen Lieferketten oder den viel zitierten KinderbetreuerInnen. Völlig lächerlich erscheint da die bei mir zu tage tretende Abhängigkeit von Live-Konzerten, auf die ich dereinst zu gehen pflegte. Ach, diese kurze Flucht aus dem Alltag, zwangloses, gemeinsames und gleichzeitiges Musikhören. Vor der Bühne und am Zapfhahn sind alle gleich, es spielt keine Rolle wer du bist und was du machst.  

Eines der letzten Konzertmomente: Murder Capital 2020

Eine Erfahrung, die unvereinbar mit physical distancing ist. Klar, man kann Konzerte streamen nur wo soll da der Schweiß von der Decke tropfen, woher die Bierdusche kommen? Diese unsichtbare Verbindung, die Band und Publikum während Konzerten aufbauen, lässt sich nicht virtualisieren und doch werden wir noch Monate darauf verzichten müssen. Anlass für mich, auf meine bisherigen Liveshows der letzten 5 Jahre zu blicken, natürlich mit gewohnter Datenschlagseite.  

Seit 2015 notiere ich kurz nach Konzertbesuchen Band, Ort, Monat und eine sehr subjektive Bewertung des Erlebnisses. Die Skala deckt die Bierdusche, die zweite Zugabe und den Bierpreis gleichermaßen ab wie die musikalische Darbietung, Soundqualität und Energie, die von Band und Publikum ausgeht.  

Ein sehnsüchtiger Blick zurück auf großartige Momente in miefigen Untergrund-Clubs und epidemiologisch bedenklich vollgepackten Konzerthallen:

Jetzt ist das ja meist so, dass man auf Konzerte geht, wo man die Bands gut kennt oder als Begleitung mitgeschleppt wird, was natürlich einen Effekt auf die Bewertung haben kann. Grundsätzlich denke ich aber, dass man auf allen Konzerten Spaß haben kann, auch wenn man allein unterwegs ist oder auf dem Weg zum Club noch schnell in einen Song der KünstlerIn reinhört. Und so ist die Bewertungsskala zu verstehen. Es geht nicht um die einzelne, objektive Bandleistung, sondern um das Erlebnis. Wie man oben im Histogramm sieht, hat in meinen Konzertbewertungen der kleine Gauß einen normalverteilten Gruß hinterlassen, ein paar Ausreißer nach oben und unten, aber die Mehrzahl der Konzerte habe ich mit einer soliden 7 von 10 bewertet. (Mittelwert: 7,3)

Set-up aus Zuschauerperspektive - Quelle: Internet

Fangen wir mal bei den vergleichsweise wenigen Scheißkonzerten an. Zu jeder dieser Darbietungen habe ich eine Begründung, warum ich früher ging. Manchmal nach 3 Songs, manchmal erst nach 8. 


 



Da war zum Beispiel das Justin Townes Earle Konzert im Roten Salon in der Volksbühne Berlin 2015. Ich bin irgendwann über ein Grooveshark Video (einer längst vergessenen Streamingplattform) auf den Künstler aufmerksam geworden. Das Konzert entpuppte sich jedoch als eine Arty-farty-Weinschorlen-Schlurfende-Mitte-Hipsters-Vollversammlung, wo Townes Earle lediglich die Begleitmusik beisteuerte. Nicht gerade das, was ich unter einem Konzert verstand. Meine Begleitung hat noch vor Beginn das Weite gesucht, ich erst nach 5 Songs. Einziges Highlight: Ein alkoholgeschwängerter Ben Becker pöbelte im Treppenhaus ein paar Hipster zurecht. (Update: Townes Earle verstarb überraschend im August 2020)

Bei den Seratones war dagegen der Sound so laut, dass ich kurz vor Ertaubung flüchten musste.Und Mule & Men, damals „Headliner“ im headlinerbefreiten Fusion Festival 2016 war einfach nur schlecht. Angepriesen als ein Crossover aus Deichkind und Bonaparte (Anti-Anti), fehlte der Show dann aber leider beide Impulse. Zu Recht hat man von dieser Kombo nie wieder was gehört.

The Big Nose Attack, einer sicher nicht nur mir unbekannten griechischen Rockband, war, was man von einer unbekannten, griechischen Rockband erwarten konnte: solider aber höhepunktloser Rock. (Streng genommen eine Black Keys Kopie). Die Konzerthalle war mit einer Handvoll Menschen besucht, das große Bier kostete 3€ und man konnte drinnen rauchen. Nur deshalb kam das Konzert mit einer 5 von 10 davon.

Lediglich 8 aus 86 Konzerten, die ich für erinnerungs- und bewertungswürdig hielt, ist eine recht niedrige Ausfallrate, wenn man die spontan- und never-heard of Artist Konzerte bedenkt, auf die man so geht.

Nun aber zu den Highlights aus 5 Jahren Live-Konzerten:

 

Zu jeder dieser 14 Shows könnte ich mich erklären, warum es außergewöhnliche Konzerte waren. Einige Eindrücke:

Lower Dens (BiNuu 2015): Sein (damals ihr) Album Nootropics markierte für mich den Einstieg in die Dream Pop Welt. Mit äußerst schlichtem Bühnen Set-up (Gesang, Drum Machine + eine altes Mac Book) erzeugte er eine Stimmung und Atmosphäre, die ich live so nicht kannte. Die auf dem Album noch recht reduzierten Beats, trieben hingegen in der Liveshow das Publikum vor sich her.

Sleaford Mods (SO36 2015): Der zeitliche Kontext ist hier wichtig. Das Punk-Rap Duo aus UK hat das geschafft, was man einen Erweckungsmoment der eingeschlafenen Punkszene Englands nennen könnte. Die Band hatte nur mit ein paar Drum-Loops und sehr, sehr viel Wut eine erstaunliche Welle der Begeisterung losgetreten. Die großartige Band-Doku „Bunch of Kunst“ fängt den Bandaufstieg aus der britischen Gosse ein und erzählt die Geschichte der damals schon in die Jahre (Ü40) gekommenen Musikern. Auf dem dramaturgischen Höhepunkt von Bunch of Kunst sieht man dann auch das Konzert im SO36. Es war groß.

Kate Tempest (Berghain 2015): Ja ja, das Berghain…kein Club spaltet die Gemüter mehr. Ich halte es wie die Stoner-Rocker von DxBxSx in „Its so Berghain“, aber geschenkt. Man hat nicht allzu viele Gründe, ins Berghain zu gehen und selbst wenn, ist da immer noch der Bouncer. Die einfachste Variante ist allerdings ein Konzertticket: 100% Success Rate. Tempest, die dort anlässlich der Überreichung des RadioEins Newcomer Awards auftrat, war da ein guter Anlass. Und es war schlicht perfekt. Eine kleine, zierliche Frau (die sich seit August 2020 Kae nennt/ they) schmettert ihre Reime zu treibenden Beats in den hintersten Winkel und dunkelsten Dark Room. „The system“, wie man dereinst die Soundinstallation des Berghains nannte, gepaart mit Tempests Dynamik ging direkt in den Körper ohne irgendwelche Umwege übers Gehör. Gegen Ende des Konzerts warf ein einziger Scheinwerfer im sonst finsteren Club einen glasklaren Leuchtkegel auf die rothaarige Frau. Sie trug stimmgewaltig eines ihrer systemkritischen Gedichte vor: Es spricht die menschgewordene Unschuld in der Kathedrale des Vergnügens mahnende, eindringliche Worte zum Publikum. Symboltracht im Kinoformat. Nie vorher und nie danach habe ich so etwas erlebt. Klare 10/10

Tocotronic (SO36 2015): Als Toco-Fanboy since my bloody youth ist es eine Selbstverständlichkeit zu ihren Konzerten zu gehen. Dass ich mit dieser Band schon viel zu lange mitgegangen bin und dass die Bandmitglieder allesamt 10 Jahre älter sind als ich, verschafft mir bei ihren Konzerten einen seltenen Einblick in die eigene Vergangenheit und die Zukunft gleichermaßen. Viele Songs habe ich erst Jahre nach Erscheinen verstanden, ihre letzten Alben werde ich erst in 5 Jahren durchsteigen. Alles braucht seine Zeit. Was mir an Tocotronic-Konzerten schon immer gefallen hat, ist die ausgewogene und ohne jegliche Vorbehalte getätigte Songauswahl. Das wie im SO36 bei der Record Release Show des Roten Albums am 1.Mai in Kreuzberg neben den neuen, doch überwiegend die alten Songs gespielt wurden, machte es so besonders. Die Band hatte Bock. Ähnlich wie zwei Jahre zuvor im Huxleys als sie drei Zugaben spielten und allein der Umstand, dass unsere Bierbecher noch nicht leer waren, bescherte uns eine letzte vierte Zugabe. Die wenig Übriggebliebenen konnten noch eine der seltenen Darbietungen von „Jungs hier kommt der Masterplan“ beiwohnen. (Was im Übrigen seitdem auch nicht mehr live gespielt wurde) Und noch was zu Tocotronic Konzerten: Sie werden über die Jahre live immer besser.

Kraftwerk (Neue Nationalgalerie 2015): Ich glaube, es braucht hier nicht viele Worte. Ein einmaliger Konzertort und eine legendäre Band. Nur die Weißweingeschwängerten, etwas in die Jahre gekommenen Besucher sowie die 3D Brillen im Charme der 90er waren nicht so cool.

Dean Dirg (Kastanienkeller 2016): Vor vielen Jahren wurde ich einmal in der Kastanienallee in Berlin von einem schwäbischen Touristen angepöbelt, warum denn hier in der Straße nichts los sei: desch is so dübbisch, Berlin kann nischt. Ja, die Kastanienallee ist nicht mehr hip, aber zumindest ein Vertreter des alten Berliner Untergrunds hat überlebt: Das Café Morgenrot. Dort gibt’s einen Keller, 5m breit, 10m lang, 2 hoch. Ideal für den straighten Punk von Dean Dirg.
Die Ereignisse in chronologische Reihenfolge:
Band betritt die Bühne - der Gitarrist greift zum ersten Mal in die Saiten - die 30 Anwesenden verschleudern synchron ihre Biere - kein Song ist länger als 1:30 - „Raus Raus Raus, Dean Dirg Raus“ - Ende. Keine Zugabe. Es war so groß.

Fontaines DC (Schokoladen 2019): Der Hype um den neuen Irischen Postpunk hat mich ähnlich erfasst, wie einst die britische „The“ Welle von 2004/2005. Ende 2018 gab es nicht viel mehr als nur eine paar EPs und Youtube Videos von Bands wie Murder Capital, Just Mustard und besagten Fontaines DC. Als ich vom Konzert im Schokoladen erfuhr, einem mittlerweile legalisierten Hausbesetzungsprojekt der frühen 90er Jahre in Berlin-Mitte, war ich ganz außer mir. Ein so kleiner Laden (max. 50 Leute) und eine solch vielversprechende Band? Allerdings: Kein Vorverkauf. Freud und Leid können so nah beieinander liegen.
Am Tag des Konzerts stand ich dann zwei Stunden vor Türöffnung im eisigen Schneeregen mit einer durch und durch irisch geprägten Gruppe von etwa 50 Menschen an. Es wurde gefachsimpelt, gelobhudelt und sich warmgetrunken. Als dann endlich die Türen öffneten, passte genau die Menschenmenge in den Laden, die vorher anstand. 19Uhr Einlass, 19:05 ausverkauft. Das Publikum hatte schon gut getankt als es dann endlich losging. Und es war vom ersten Moment an Bombe! Allen war klar, dass das der Beginn einer großen Band sein würde. Überall Begeisterung, ob der Show, des neuen Postpunk Sounds oder der Atmo. Man lag sich in den Armen. Nach dem Konzert gesellte sich die Band zum Publikum, es wurde wieder gefachsimpelt und der Pfeffi kreiste. Es war sicher einer dieser selten Konzerterlebnisse, wo man dem Formen des Bandgefüges, der Bühnenattitüde und des Selbstbewusstseins zusehen konnte; es war eben noch nicht alles eingeprobt, nicht jeder Riff, Ton und Ansage saß. Eine kürzlich erschienene Band-Kurzdoku schmälert allerdings ein wenig diesen Eindruck, denn man könnte den Eindruck gewinnen, dass hier gezielt ein Dublin Mythos vermarktet werden soll. Die Wahrheit liegt wie so oft im kommenden zweiten Album. (update Juli 2020: Das zweite Album dann doch eher enttäuschend)

Ich könnte noch ewig über all die anderen Konzerthighlights schwadronieren, allerdings ist das hier immer noch ein Musik- und Statistikblog und bisweilen ist die Statistik doch noch deutlich unterrepräsentiert. 
 


Ein Blick auf den Jahresverlauf zeigt, dass ich im Mittel auf 17 Konzerte pro Jahr gehe und tendenziell 2015 und 2019/2020 überdurchschnittlich gute Konzerte erlebt habe. Der Split nach Hauptgenre spiegelt eher die musikalische Präferenz wieder. Bei Pop, wie dereinst ein Udo Lindenberg Konzert im Olympiastadion Berlin sind eher nicht so mein Ding. Ganz im Gegensatz zu Postpunk und Punk, die nicht nur in der Durchschnittsbewertung sondern auch anteilsmäßig gut weg kommen. Gerade die wenig mainstreamigen Genre finden fast ausnahmslos in kleinen, inhabergeführten Venues statt. Das produktisierte Massenentertainment wie es in der Verti Music Hall z.B. stattfindet, ist hingegen so identitäts- wie emotionslose, wie man es eben von Malls erwartet (Burger King, Starbucks und Irisch Pub inklusive). Konzerterlebnisse kann man nicht als Investment-Case abliefern. Musik, Künstler und Publikum müssen zusammenpassen und nicht die Gewinnerwartungen von irgendwelchen Shareholdern und Projektentwicklern.

Noch ein paar weitere Statistiken:
  • 71% waren in Einzelkonzerte, 29% auf diversen Festivals
  • Jeweils drei Mal habe ich The KVB, Sleaford Mods, Tocotronic und Protomartyr seit 2015 erleben dürfe, und würde es wieder tun
  • Top Clubs nach Häufigkeit: Musik&Frieden (6), BiNuu (4), SO36 (4), Lido (3), Urban Spree (3), Kantine am Berghain (3)
  • In Summe 38 verschiedene Locations in 12 Städten in 7 Ländern
Nach diesem Blick auf das, was dereinst mein "Hobby" war, bleibt im Monat 9 seit Pandemiebeginn nicht mehr viel Optimismus übrig. Ich hoffe, dass all die kleinen Clubs, das Stage- und Barpersonal, die Booker, Promoter und - natürlich - die KünstlerInnen das irgendwie überstehen. Mir graut es vor der Vorstellung, dass all diese Leute, die ihren Lebensunterhalt mit Livemusik verdient haben, sich irgendwelcher belanglosen Bürojobs und Tagelöhnerei hingeben müssen. Pushed die Politik, startet Crowdfundings und macht Veranstaltungen im Einklang mit dem Infektionsschutzgesetzen. Ihr seid wichtig! Und ihr werdet umso wichtiger sein, wenn dass alles überstanden sein wird.

VG
DiplImp

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